Spiritualität des Karmel



Eine Zusammenstellung der
Schriften zur Spiritualität des Karmel und der Werke der Ordensheiligen
finden Sie auf den Seiten unserer Ordensprovinz.

 

 

Die karmelitanische Art, als Christ zu leben

Eine kurze Hinführung zur christlichen Spiritualität aus dem Geist des Karmel

 

Papst Honorius III. kam in Schwierigkeiten, als eine Abordnung von Mönchen aus dem Karmelgebirge um die kirchliche Bestätigung ihrer Ordensregel bat. Vor einigen Jahren erst, auf dem Vierten Laterankonzil 1215, waren sich die Bischöfe einig geworden, dass man die Gründung neuer Orden nicht mehr gestatten wollte. Überall im christlichen Abendland waren geistliche Gemeinschaften nur so aus dem Boden geschossen, und die Konzilsväter hatten mit ihrer Entscheidung denen rechtgegeben, die auf diese Weise „Herr der Lage“ zu werden glaubten. Mehrfach schon hatte Honorius auf diesen Beschluss aufmerksam machen müssen. Und nun stand wieder eine Gruppe vor ihm. Nur die Tatsache, dass die Bittsteller darauf verweisen konnten, schon vor dem Konzil nach ihrer von Bischof Albert aus Jerusalem erhaltenen Ordensregel gelebt zu haben, ermöglichte es dem Papst, die Zustimmung zu erteilen.

   Noch ein Orden? Noch eine Spiritualität? Es gab diese Frage immer wieder in der Kirche. Von einem gewissen Verwaltungsdenken her gesehen, das den Leitenden und Verantwortung Tragenden zu Recht in gutem Maße eigen sein muss, ist sie auch verständlich. Doch der Geist Gottes beantwortete sie in allen Jahrhunderten auf seine Weise.

   Seinen Ursprung verdankt der Karmelitenorden nicht einer berühmt gewordenen Gründerpersönlichkeit; am Beginn seiner Geschichte steht nicht das Charisma eines Einzelnen, sondern die Lebensgemeinschaft einer Gruppe. Es waren namenlos gebliebene Kreuzfahrer und Palästinapilger, die sich gegen Ende des 12. Jahrhunderts im Karmelgebirge in Israel niederließen und zu einer Eremitenkommunität zusammenschlossen – junge Männer, die es mitten in der lauten, waffenklirrenden Kirche ihrer Zeit in die Stille zog. Sie tauschten das Kreuzfahrergepäck, wie ihre Ordensregel sagen wird, gegen die „Waffenrüstung Gottes“ (Eph 6,11) ein und wollten fortan das Evangelium zur Richtschnur ihres Lebens machen.

   In Elija, der nach alttestamentlicher Überlieferung fast zweitausend Jahre vor ihnen an denselben Ort gekommen war, fanden die jungen Christen ein Leitbild vor, nach dem sie ihre neue Lebensform gestalten konnten. „Der Herr der Heerscharen lebt, Israels Gott, und ich stehe vor seinem Angesicht“ (1 Kön 17,1), hatte der Prophet gesagt. Wie er wollten auch sie mit Gott als einer lebendigen Wirklichkeit, als einem personalen Gegenüber leben. Gott sollte für sie – mit heutigen Worten ausgedrückt – mehr sein als eine bloße Vokabel ihrer religiösen Weltanschauung und Glauben mehr als Zugehörigkeit zur Kirche und Einhaltuung ihrer Gebräuche.

   Als der Bischof von Jerusalem zur Ordensregel zusammenfasste, was er sie leben sah, formulierte er als Kernsatz: „Jeder einzelne soll in seiner Zelle oder in ihrer Nähe bleiben, Tag und Nacht das Wort des Herrn meditierend und im Gebet wachend, es sei denn, er ist mit anderen, wohlbegründeten Tätigkeiten beschäftigt.“ Es ging den Karmeliten, wie die Mönche später nach ihrem Ursprungsort genannt wurden, nicht zuerst darum, besondere Zeiten für das geistliche Leben festzuschreiben. Vielmehr lag ihnen daran, den Alltag selbst geistlich zu leben. Frömmigkeit ist im Karmel von Anfang an eine Angelegenheit von vierundzwanzig Stunden. Ob während der „geistlichen Übungen“ oder während der täglichen Arbeiten – es gilt, sich der Gegenwart Gottes bewusstzuwerden und mit dem auferstandenen, lebendigen Christus durch den Tag zu gehen, aktiv zu sein in der Kontemplation und kontemplativ in den Aktionen.

   Eine Marienkirche aus dem 5. Jahrhundert, deren Grundmauern die Eremiten auf dem Karmel vorfanden, war der äußere Anlass, sich ausdrücklich an Maria zu orientieren. An ihr konnten sie ablesen, wie man sich ganz der Wirklichkeit Gottes öffnen und in der immerwährenden Verbundenheit mit ihm leben kann. Sie sahen in Maria ihre „Patrona“, die Erste in ihren Reihen; sie nannten sie „Schwester“, sich selbst schon bald „Brüder unserer Lieben Frau vom Berge Karmel“. Wie Maria und mit Maria in Gott das DU finden – das ist der Grundzug der karmelitanischen Spiritualtät.

   Als die politischen Umstände den neuen Orden zwingen, Palästina zu verlassen, finden die Karmeliten sehr schnell Verbreitung in den westlichen Ländern der christlichen Welt. Im Umfeld ihrer Klöster werden sie, nach Art der damals blühenden Mendikantenorden (wie Franziskaner und Dominikaner), seelsorglich tätig.

   Viele Christen in den Städten lassen sich von ihrem Geist inspirieren; hier liegen die Wurzeln der Laiengemeinschaft (TKG), die heute zur Familie des Teresianischen Karmel gehört.

   Im 15. Jahrhundert beginnen Frauengemeinschaften nach der Karmelregel zu leben. Die ersten Karmelitinnenklöster entstehen.

   Nach der Reformation in Deutschland (16. Jh.) gründet im katholischen Spanien die Karmelitin Teresa von Ávila zusammen mit Pater Johannes vom Kreuz einen neuen Ordenszweig, den „Unbeschuhten Karmel“. Beide Ordensgemeinschaften, der Stammorden der Karmeliten und der Reformorden der Teresianischen Karmeliten – so ihre heutigen Namen –, sind fortan in ihrer Spiritualität durch diese beiden spanischen Mystiker geprägt.

Teresa von Ávila (1515-1582) beobachtete an Jesus, dessen Leben sie immer wieder meditierte, wie er sich Gott zuwendet, ehrfürchtig tiefen, vertrauten Umgang mit ihm pflegt und zugleich ganz dem jeweils Nächsten zugewandt ist. Der Jesus von damals ist für sie der auferstandene Christus von heute. Auch mir ist er ein Freund – das war die große Entdeckung Teresas nach fast zwanzig Klosterjahren. Mit bestechender Ehrlichkeit hat sie in ihren Schriften den Weg beschrieben, den sie von beengenden und angstmachenden Gottesvorstellungen hin zur „Freundschaft mit Gott“ gegangen ist. In dieser Freundschaft versuchte sie fortan zu leben.  An die Stelle ihrer Unzufriedenheit trat eine innere Zweisamkeit. Sie bekam eine neue, tiefere Sicht vom Glauben, vom Beten, von der Eucharistie und den Sakramenten, von der Kirche ... Auch für Teresa ist das Leben mit Gott nicht auf Gebetszeiten beschränkt. Sie sagt: „Christus ist auch in der Küche, mitten zwischen den Kochtöpfen.“ Es gibt für Teresa keine Trennung von Kontemplation und Aktion. Geistliches Leben ist kein zeitlich begrenzbares Tun, sondern eher eine Einstellung und eine Lebensform, eine neue Art und Weise zu denken, zu fühlen, zu handeln und zu sein. Im Leben Jesu findet sie ihre Schule der Freundschaft mit Gott und den Menschen.

Johannes vom Kreuz (1542-1591) hat der Spiritualität des Karmel die notwendige theologische Fundierung gegeben. Er sieht das menschliche Leben als einen Entwicklungsprozess, als eine „Angleichung an Christus“ und als „Umformung in Gott hinein“, als ein Reifen und Werden auf die Vollendung in der Ewigkeit hin. Glauben heißt für ihn, sich bewusst auf diesen Reifungsprozess einzulassen: eigene Wünsche und Pläne zurückstellen, Meinungen und Überzeugungen anfragen lassen, Vorstellungen von Gott, vom Gebet, vom Glauben revidieren, stets neu lernen und umlernen, offen bleiben für das, was dem Geist Gottes entspricht. – Von besonderer Bedeutung ist seine Lehre von der „dunklen Nacht“ geworden. Auch und gerade die Nichterfahrung Gottes ist für ihn Gotteserfahrung, ist intensive „Läuterung“, die aus religiösen Fixierungen befreit und zur Liebe fähig macht.

Therese von Lisieux (1873-1897) hat die Spiritualität des Karmel durch ihren „kleinen Weg“ bereichert. Sie erkennt: Gott erwartet weder Perfektion noch heroische Taten. Er will nichts anderes, als dass ich ihm die Liebe glaube, die er zu mir hat, und dass ich aus dieser Liebe lebe. In einer echten Freundschaft zählt nicht die Leistung, sondern „allein die Liebe“.

Elisabeth von Dijon (1880-1906), die im  Kloster den Namen „von der Dreifaltigkeit“ trug, hat in ihren Tagebüchern und in einer sehr umfangreichen Korrespondenz sehr ausdrücklich davon gesprochen, dass Gott „Gemeinschaft“ ist und geistliches Leben zur Teilnahme am „Fest der Drei“ werden kann. Das göttliche DU, zu dem sie aufblickte, offenbarte sich als ein „Ihr“, als Dreieinigkeit Gottes. Eine solche Entdeckung hat Auswirkungen: Die Schwestern im Kloster und die Menschen in der „Welt“ rückten ihr von einem neuen Ansatz her näher.

Unserer Zeit wurde Edith Stein (1891-1942) geschenkt, die als Jüdin und Philosophin den Weg vom Atheismus zum Zentrum des christlichen Glaubens ging. An ihr wird auf besondere Art deutlich, dass die Großen des Karmel und ihre Spiritualität nicht allein dem Karmelitenorden, sondern allen Suchenden gehören.

Noch viele andere wären zu nennen, die durch ihr Lebensbeispiel und ihre Lehre den karmelitanischen Weg der Christusnachfolge mitgeprägt und anziehend gemacht haben.

Die konkreten Formen, in denen sich die karmelitanische Spiritualität verwirklichen kann, sind sehr vielfältig. Die Palette der Möglichkeiten reicht weit über das klösterliche Leben hinaus. Das wird schon darin sichtbar, dass der Orden des Teresianischen Karmel nicht nur aus den Schwestern und den Brüdern in den Klöstern besteht, sondern zu ihm eine Laiengemeinschaft gehört: die Teresianische Karmel-Gemeinschaft (TKG), in der Frauen und Männer (in Deutschland „Familiaren“ genannt) – verheiratete und ehelos lebende – an ihrem Platz in Familie und Gesellschaft im Geist des Karmel leben möchten. Karmelitinnen, Karmeliten und Laien-Karmeliten bilden zusammen den einen Orden des Teresianischen Karmel; sie ergänzen einander, lernen voneinander und arbeiten – zum Beispiel in der Exerzitienseelsorge – miteinander. Auch etwa 70 andere Ordensgemeinschaften und mehrere Säkularinstitute haben die Spiritualität des Karmel zur Grundlage ihrer Lebensregel gemacht. Und ungezählten Gruppen und Einzelnen helfen die Schriften der geistlichen Lehrmeister des Karmel bis heute, den Glauben tiefer zu verstehen und das Leben von der „Mitte“ her zu gestalten.

 

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